Akademische Pünktlichkeit

15 Minuten vor Abfahrt solle man sich vor Ort einfinden, heißt es in der E-Mail, mit der sowohl die Buchungsbestätigung als auch das E-Ticket für die Fahrt zur Verfügung gestellt werden. Mein Bus fährt um 13 Uhr am Touri-Spot Berlin Alexanderplatz gegenüber des Hotels Park Inn ab. Ich bin natürlich eine Viertelstunde vorher da und schlürfe entspannt meinen selbstgekochten- und selbstabgefüllten Kaffee in der sich mehrenden Menschentraube. In meinem Kopf bildet sich der Vergleich „Pünktlich wie ein Maurer, der auf Arbeit wartet“ – das war allerdings nicht immer so, also das mit der Pünktlichkeit. Dazu jedoch, komme ich später noch.

Freitag ab eins macht jeder Seins

Inzwischen ist es 13:20 Uhr und von dem Bus fehlt jede Spur. Trotz der dreispurigen Fahrbahn, die an einem Freitag vormittag so viele Lücken wie der Haaransatz eines in die Jahre gekommenen Prinz William aufwirft, ist der Bus nicht im entferntesten zu sehen. Aber in Deutschland gilt hierfür bekanntlicherweise die Faustregel des öffentliches Dienstes: Freitag ab 1 macht jeder seins – das Motto einer pfannkuchengeformten Wohlstandsgesellschaft. Als der Bus 13:23 Uhr einfährt wird mir bewusst, dass ich meine zu Papier gebrachten Gedanken nochmal revidieren muss und folglich pfannkuchengeformte Ellenbogengesellschaft daraus machen muss.

Wie ein Verhaltensforscher beobachte ich die menschliche Psyche einer neben mir in der Traube stehenden Seniorengruppe. Ihre Gesichter verändern sich schlagartig mit Ankunft des Busses. Die zuvor noch herabhängenden Mundwinkel, die sehr viel Ähnlichkeit mit einer im Trend liegenden Hunderasse aufweisen, schießen plötzlich in die Höhe. Während ich noch so darüber nachdenke, warum die Evolution die Verbindung zu Hund und Mensch geschaffen hat, stößt mir jemand gekonnt seinen Ellenbogen in die Rippen und verschwindet fluchtartig und ohne sich umzudrehen in den knallgrünen Bus.

„Lohnt es sich darüber aufzuregen?“ frage ich mich, während ich mich kurzzeitig von dem Fahrgestell entferne, um meine Zigarette in aller Seelenruhe in einem dafür vorgesehenen Behälter auszudrücken. „Überhaupt nicht“, denn inzwischen habe ich gelernt, dass der Einstieg in den Bus als Letzter mehr Pro statt Kontra bringt. Beigebracht hat mir das meine akademische Pünktlichkeit, die ich eingangs erwähnt habe. Denn leider wartet kein öffentliches Verkehrsmittel 15 Minuten auf seine Mitfahrer – weder der Bus, noch der Zug und schon gar nicht der Flieger.

Mein Dank geht raus an…

Obwohl ich öfter zu spät dran bin, hat mich aus diversen Gründen das Karma stets begleitet. An dieser Stelle möchte ich meinem Kumpel Joe danken, der mich trotz kaputter Scheibenwischer im September 2016 mit seinem Auto von London nach Gatwick gebracht hat, obwohl wir bei strömendem Regen nicht mal mehr die Fahrbahn sehen konnten. Ein weiterer Dank geht an meinen Taxifahrer Mustafa, der eine „Need For Speed“-Challenge hinlegte, als es im November 2017 nach Paris ging. Der größte Dank jedoch gilt meiner Freundin Elisa, die eine Zigarettenschachtellänge auf mich am Flughafen wartete, wo sie dem Security schöne Augen machte und ihm Wodka in den Kaffee kippte, damit wir noch in den Flieger kommen. Wie sie das gemacht hat und warum er den Kaffee nicht merkwürdig fand, ist mir allerdings nach wie vor ein Rätsel.

Ja ich weiß, klingt alles ziemlich desaströs und suizidgefährdet, aber irgendwie hat es Spaß gemacht. Nun, Jahre später, sitze ich brav angeschnallt in der letzten Reihe vom Flixbus und warte geduldig auf die Abfahrt nach Hamburg. Neben mir sitzt einer dieser Rentner, der aufgrund seiner Wohlstandsplautze kaum den Gurt umgeschnallt kriegt und vor mir der Ellenbogenmensch, der nervös an seinen „Beat by Dre“-Kopfhörern rumfummelt, bis die Musik von 187 Straßenbande so laut ist, dass sie auch mein Gehör erreicht. Danach fährt er seinen Sitz nach hinten und damit direkt auf meinen Schoss. Ich werfe einen gequälten Blick zum Rentner neben mir, der inzwischen dabei ist seine Stulle aus der Tupperdose zu holen, die mit 10 cm Butter bestrichen und Zungenwurst belegt ist. Zu allem Überfluss tönt es plötzlich aus der Sprechanlage: „Willkommen an Board, ich wünsche ihnen eine angenehme Fahrt!“ und der Bus setzt sich langsam in Bewegung, um in Hamburg mit einer Meute genervter Fahrgäste garantiert zu spät einzufahren.

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